Zeitreise im Dreiländereck

Erfundene Wallfahrt: Die "Via sacra" durch Deutschland, Tschechien und Polen / Van Michael Gassmann

"Bauherr: Gott. Beteiligte Firmen: Alle Menschen, die guten Willens sind. Baubeginn: 1255. Baumaßnahme gefördert durch: Glaube, Hoffnung, Liebe." So steht es auf einem Tuch, das an der Empore im Hauptraum der Franziskanerkirche in Zittau hängt. Die Gemeinde hat sich in den Chor des gotischen Raums zurückgezogen und ihn durch eine Glaswand abgetrennt. Das Kirchenschiff wird nicht mehr benötigt, die Gemeinde ist nicht groß genug. Es hat schon bessere Zeiten für den Protestantismus gegeben, hier in der Oberlausitz, wo sich die Reformation einst schnell durchsetzte. Jetzt fehlen die Menschen - und es fehlt Geld.

Dennoch spürt man Zuversicht. Denn an diesem Sonntag, dem 6.November, feiert das in den Räumen des angrenzenden Klosters untergebrachte Kulturhistorische Museum der Stadt einen guten Tag: Das Kleine Zittauer Fastentuch, 1573 entstanden, wird fortan in einer Dauerausstellung in einem Anbau des Museums zu sehen sein. Die Kirche hat ihren Chorraum fur den Festakt zur Verfügung gestellt, Ministerpräsident Milbradt ist gekommen, und ein Vertreter der Gemeinde erklärt den säkularen Gästen, daß Gott sie hier zusammengeführt habe. Später werden ein katholischer und zwei evangelische Geistliche vor dem Fastentuch an dessen religiöse Bedeutung erinnern und den Segen Gottes erbitten.

Das Museum und die Kirche gehen in Zittau eine eigentümliche Symbiose ein. Das ungenutzte Kirchenschiff dient zur Zeit sogar als Eingang zum Museum. Während die Gemeinde schrumpft, hält das Museum das religiöse Erbe der Stadt Zittau hoch. Die Nachbarschaft, hört man, funktioniere ausgezeichnet. Schon 1999 konnte man in der nicht weit entfernt liegenden, profanierten Kirche zum Heiligen Kreuz eine Dauerausstellung mit dem berühmten Großen Zittauer Fastentuch einrichten. Es hängt in der im Guinness-Buch verzeichneten größten Vitrine der Welt und gibt dem nicht mehr fur Gottesdienste genutzten Raum eine neue weltlich-geistliche Bestimmung.

Das Weltliche und das Geistliche mischen sich auch in einem neuen touristischen Projekt mit Namen "Via sacra". Die Stadt Zittau hat es von der Dresdner Agentur Rost & Partner konzipieren lassen. "Via sacra": Das klingt nach einer alten Pilgerstraße, aber die hat es in dieser Form hier nie gegeben. Die vermeintliche Wallfahrtsroute ist eine touristische Erfindung, eine Tour, die sechzehn sakrale Bauwerke und Kunstschätze im Dreiländereck Polen, Tschechien und Deutschland miteinander verbindet. Einige Schwergewichte sind darunter: außer den beiden Fastentüchern die zum Unesco-Weltkulturerbe zählende Friedenskirche im polnischen Jawor/Jauer und die beiden Zisterzienserinnenkloster Marienstern in Panschwitz-Kuckau und Marienthal in Ostritz, die beide seit mehr als siebenhundertfünfzig Jahren ununterbrochen existieren; die norwegische Stabkirche aus dem zwölften Jahrhundert, die auf verschlungenen Wegen ins Riesengebirge geraten ist; der Dom zu Bautzen, der die größte und älteste Simultankirche Deutschlands ist; Sankt Peter und Paul und das Heilige Grab in Görlitz; die Grüssauer Abtei und die Gnadenkirche zum Heiligen Kreuz in Jelenia Góra; die Sankt-Anna-Kapelle in Mnichovo Hradiste/Münchengratz auf tschechischem Territorium mit der Gruft Albrecht von Wallensteins, schließlich die Herrnhuter Brüder-Unität und die größte evangelische Dorfkirche in Cunewalde mit immerhin zweitausendsechshundert Sitzplätzen. Jede einzelne dieser Sehenswürdigkeiten wäre ein lohnendes Reiseziel, um so mehr glaubt man an Synergieeffekte, die Zittau als "Stadt der Fastentücher", aber auch der Kulturhauptstadt-Aspirantin Görlitz und dem abseits gelegenen Weltkulturerbe in Jawor zu noch mehr touristischer Aufmerksamkeit verhelfen könnten.

Volker Dudeck hofft, daß die einzelnen Stationen "in einer Zeit verstärkter Sinnsuche Christen wie Nichtchristen die Möglichkeit bieten, sich auf ihre besondere Ausstrahlung einzulassen und so zu Ruhe, Besinnung und innerer Einkehr zu finden". Dudeck ist nicht etwa Pfarrer, sondern Direktor des Kulturhistorischen Museums Franziskanerkloster Zittau und damit Herr der Fastentücher. Aber in seiner Person scheint er etwas von der weltlich-geistlichen Melange zu verkörpern, die das ganze Unternehmen auszeichnet. Er gesteht freimütig, aus der Kirche ausgetreten zu sein, und würde sich dennoch nicht als areligiös bezeichnen. Wenn Dudeck die Geschichte des Großen Fastentuchs erzählt, dann merkt man, daß es eine Geschichte ist, die ihn bewegt: Mit welchem Einfallsreichtum es 1472 bemalt wurde; wie es noch hundertfünfzig Jahre lang von Protestanten weiterbenutzt wurde; wie man es dann außer Gebrauch nahm und hinter Bücherregalen verstaute; wie man es dort 1840 unversehrt fand; wie es die Zeiten in bestem Zustand überdauerte, bis man es im Zweiten Weltkrieg in einem Stollen versteckte, wo es von russischen Soldaten gefunden, zerschnitten und zum Abdichten einer Waldsauna verwendet wurde; wie sie die Einzelstücke dann achtlos liegenließen und sie ein Holzsammler rettete; wie das Tuch endlich 1994 restauriert werden konnte und Platz fand in einer Kirche, die 1988 einmal beinahe zusammengestürzt wäre, wenn sie nicht mutige Leute gesichert hätten. Für die Kirche zum Heiligen Kreuz und für das Große Fastentuch ist das ein Happy-End, und Volker Dudeck berichtet davon mit Leidenschaft und Dankbarkeit. Mit seinem Temperament hat er sich Anerkennung erworben, bald geht er in den Ruhestand. Gottfried Kiesow, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, sagt während des Festaktes, Dudeck habe das Zeug zum Leiter eines der ganz großen Häuser in Deutschland gehabt, sei aber aus freien Stücken Zittau treu geblieben. Für die Stadt hat es sich ausgezahlt.

Von Zittau geht es über die Landstraße nach Görlitz, wo die Stimmung erwartungsfroh bis kämpferisch ist: 2010 will man Europäische Kulturhauptstadt werden, und so ist Optimismus lokalpatriotische Pflicht. Kai Grebasch, Pressesprecher der Bewerbungskampagne, rühmt die Brückenfunktion, die eine deutsch-polnische Kulturhauptstadt haben könne, erläutert das Konzept eines Brückenparks entlang der Neiße, das Kunstprojekt "Grenzgänge", die geplante Ausstellungsreihe entlang der mittelalterlichen Via Regia, die schönen Ergebnisse der Görlitzer Altstadtsanierung und die Vorzüge des Berzdorfer Sees, eines zum Sport- und Erholungszentrum umgestalteten Tagebaugebiets. Da kommt die "Via sacra", völkerverbindend, wie sie ist, als eine Art "bonus track" gerade recht.

In der Kirche Sankt Peter und Paul, einer der imposanten Sehenswürdigkeiten entlang der heiligen touristischen Route, freut sich auch Pfarrer Christoph Werner über das potentiell wachsende Interesse an seiner Kirche. Die hat es in Görlitz wie überall - nicht leicht. Im Jahr 2002 wurden die vier Innenstadtgemeinden zu einer zusammengefaßt; sie hat heute dreitausend Mitglieder und anderthalb Pfarrstellen. Die herrliche fünfschiffige Halle der Peterskirche ware wohl voll, wenn die Beteiligung am Gottesdienst hundert Prozent betrüge. Wenn auch die Gemeinde schrumpft, die Orgel wächst: Hinter dem außergewöhnlichen Prospekt der sogenannten Sonnenorgel, die 1703 Eugenio Casparini schuf, wächst ein neues Instrument der Schweizer Firma Mathis heran. Nur ein romantisch gefärbtes Schwellwerk fehlt noch, dann ist sie fertig.

Ein Besuch der Kirche lohnt sich. Denn wie die einst von beiden Konfessionen benutzten Fastentücher und wie die beiden nie aufgelösten Zisterzienserinnenkloster Marienstern und Marienthal ist auch sie ein Zeugnis für den sanften Verlauf der Reformation in der Region: Werner verweist auf die prächtigen evangelischen Beichtstühle aus dem siebzehnten Jahrhundert, die thronähnlich wirken: Der reuige Protestant mußte einst vor seinem Pfarrer niederknien, Auge in Auge, nicht nach katholischer Art hinter einem Gitter verborgen. Ein katholischer Brauch wurde hier protestantischen Überzeugungen angepaßt und übernommen. Inzwischen ist er abhanden gekommen. Träte jemand heute mit dem Wunsch an ihn heran, in einem dieser Beichtstühle die Beichte ablegen zu wollen, Pfarrer Werner würde sich weigern.

Am nächsten Morgen geht die Fahrt nach Polen, und sie gleicht einer Zeitreise: Die Straßen werden holprig, die Häuser baufällig. Im Zwielicht des Herbstnebels wirken die Dörfer entlang der Straße nach Jawor wie die Kulissen eines Historienfilms. In Jawor angekommen, das früher Jauer hieß, sieht es schon etwas anders aus. Die dortige evangelische Friedenskirche ist ins Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen worden. Noch vor ein paar Jahren war sie fast eine Ruine, nun ist sie rundum saniert: ein riesiger Fachwerkbau mit vier umlaufenden Emporen, der sechstausend Menschen Platz bietet. Auch sie ist ein Zeugnis spezieller konfessioneller Umstände, erzählt aber mehr von Verfolgung als von Toleranz: Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges durften die Protestanten in Jauer, Glogau und Schweidnitz zwar Kirchen bauen, aber sie mußten aus Holz und Lehm errichtet werden, einen Kanonenschuß von der Stadtmauer entfernt sein, durften nicht nach einem Gotteshaus aussehen und keine Türme haben. In Jauer wurde 1707, als sich das religiöse Klima entspannt hatte, ein Turm mit steinernem Sockelgeschoß errichtet, aber er ist kaum höher als die Kirche. Bis 1955 feierten die meist deutschstämmigen Protestanten in der Friedenskirche die Konfirmation, dann wurden die letzten von ihnen vertrieben. Über vierzig Jahre blieb die Kirche unbenutzt und verfiel.

Erst 1988 konnte wieder ein Pfarrer seine Arbeit aufnehmen, mit sieben Gemeindemitgliedern hat er angefangen. Der jetzige Pfarrer Tomasz Stawiak ist achtundzwanzig Jahre alt, seine Gemeinde umfaßt hundert Seelen; zwanzig bis vierzig Personen besuchen sonntags den Gottesdienst. "Das ist gut", sagt Stawiak, und: "Es geht aufwärts." Aber er sieht dabei ein bißchen müde aus. Noch immer spürt er eine Benachteiligung seiner Konfession in einem Land, in dem es kaum Protestanten gibt. Die Ökumene gehe mit kleinen Schritten voran, immerhin. Es gibt Gottesdienste in polnischer und deutscher Sprache, und schon wurden die ersten japanischen Touristen gesichtet.

Mehr Tourismus, als dem Charme des Ortes guttut, trifft man in Karpacz an. Karpacz, zu deutsch Krummhübel, ist ein Ferienort im Riesengebirge mit den üblichen geschmacklichen Exzessen. Schnörkel und Souvenirs, wohin man schaut. Zunächst könnte man auch die rustikal verschachtelte Kirche dort für einen touristischen Gag halten, aber der Eindruck täuscht. Es ist eine echte norwegische Stabkirche aus dem zwölften Jahrhundert; 1841 wurde sie an den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. verkauft, zerlegt und mit dem Schiff nach Stettin befördert. Den ursprünglichen Plan, das Gotteshaus auf der Berliner Pfaueninsel wiederzuerrichten, gab der König auf, sodaß es im Folgejahr ins Riesengebirge gebracht werden konnte, um der dortigen evangelischen Gemeinde zu dienen. Darum ragt nun aus den Andenkenläden Krummhübels ein Stück Wikingerarchitektur heraus.

Merkwürdig, wie sich der Eindruck ändert, wenn man die Grenze von Polen nach Tschechien überquert. Die Zeitreise, die man auf dem Weg von Deutschland nach Polen vollzog, findet nun wieder in umgekehrter Richtung statt: die Straßen werden besser, die Häuser bunter. Auf dem Weg in den Wohlstand scheinen die beiden Länder unterschiedlich weit vorangekommen zu sein. Und auch die Vorzeichen, unter denen die Kirchen arbeiten, haben sich verändert. Machte der protestantischen Gemeinde in Jawor ihr Minderheitenstatus zu schaffen, so kämpft Pater Milos Raban im tschechischen Hejnice, deutsch Haindorf, gegen die Folgen der gewaltsamen Entchristlichung seines Landes. Raban ist katholischer Diözesanpriester und Direktor des "Internationalen Zentrums der geistlichen Erneuerung Haindorf". Er ist ein Mann mit einer Energie, die wohl nur aus echter Berufung kommen kann. Er hat hier etwas wiederaufgebaut, was zum Tode bestimmt war. Die barocke Klosterkirche Maria Heimsuchung, errichtet an der Stelle einer alten Wallfahrtskapelle aus dem dreizehnten Jahrhundert und im Besitz des Feldaltars Albrecht von Wallensteins, war bis 1945 in der Obhut deutscher Franziskaner; sie wurden vertrieben. lm Februar 1950, erzählt Pater Raban, überfiel die tschechoslowakische Geheimpolizei alle Klöster im Land. Von 1950 bis 1954 wurde Maria Heimsuchung als Straflager für Geistliche genutzt, die besonders "Uneinsichtigen" unter ihnen hat man zur Zwangsarbeit eingesetzt. Raban selbst wurde in Rom zum Priester geweiht mit dem Auftrag, in seine Heimatdiözese Leitmeritz zurückzukehren, sobald es die Umstände erlaubten. Erst 1989 war das der Fall.

Damals wurde Maria Heimsuchung an die Franziskaner zurückgegeben, die sich aber zur Wiederaufnahme des Klosterbetriebs nicht in der Lage sahen. Vom Leitmeritzer Bischof holte sich Pater Raban die Genehmigung, hier ein geistliches Zentrum einrichten zu können. Er sammelte Geld, renovierte die Klosterkirche, dann die Klostergebäude. Sein Zentrum war das erste seiner Art in Tschechien, heute bietet es nicht nur eigene Seminare an, sondern vermietet die Räume auch an Firmen, Gruppen und Einzelpersonen, deren Vorhaben und Bedürfnisse im weitesten Sinne mit einer geistlichen Erneuerung zu tun haben.

Die braucht es tatsächlich in dieser Ecke Europas: Mehr als die Hälfte aller Taufen, erzählt Pater Raban, seien heute Erwachsenentaufen. Oft wüßten Brautleute, die in seiner Kirche heiraten wollen, nicht einmal, ob sie überhaupt Christen seien. Manchmal zelebriere er Messen, sagt er schmunzelnd, in denen erst die Eltern der Brautleute, dann diese selbst getauft würden, anschließend werde die Trauung vollzogen und schließlich das schon vorhandene Kind getauft. Die Folgen einer gewaltsamen Entchristlichung wirken nach. Noch ist der Beruf des Geistlichen in Tschechien schlecht angesehen, aber vielleicht wird sich das ändern durch Projekte wie die von Pater Raban, dessen Lebenswerk die Rettung des Klosters Maria Heimsuchung ist.

Zurück in Zittau, hören wir von einer anderen Rettung, die durch die Wende von 1989 möglich wurde: Beinahe die ganze Stadt sollte einmal dem Braunkohletagebau weichen; im Vorgriff auf den Abriß ließ das Regime Zittau systematisch verfallen. Der Systemwechsel hat die schöne Stadt vor dem Schlimmsten bewahrt. Heute ist das meiste saniert. Sogar einen Türmer hat die Stadt wieder eingestellt. Sein Arbeitsplatz befindet sich auf einem Turm der von Karl Friedrich Schinkel erbauten Johanniskirche. Fragt man ihn nach seinem Namen, sagt er: "Der Türmer heißt Reinhard Rokitte"; fragt man ihn nach seinen Aufgaben, antwortet er: "Im Mittelalter habe ich natürlich andere Aufgaben gehabt als heute." Da verschmilzt einer mit seinem Amt und dessen, Geschichte. Einmal stündlich spielt er mit seiner Trompete den Zittauern ein Lied. Heute hat er "Allein Gott in der Höh" ausgewählt, morgen soll es "Amazing Grace" sein. Es ist keine schlechte Wahl, denn dieses Lied besingt eine wundersame Rettung: "I once was lost, but now I am found." Das kann man über einige der Orte entlang der "Via sacra" auch sagen.


Frankfurter Allgemeine Zeitung, Donnerstag, 17. November 2005, Nr. 268 / Seite R 11

 

Informationen über Stationen, Fahrtzeiten, Unterkünfte und Reiseangebote gibt es auf der Internetseite www.via-sacra.info
sowie beim Tourismuszentrum Zittau, Markt 1, 02763 Zittau, Telefon: 03583/752200, tourist-info@ zittau.de,
im Internet: www.info-zittau.de. Näheres über die Zittauer Fastentücher erfährt man unter: www.zittauer-fastentuecher.de




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