Auf der Eisenbahnfahrt von Samarkand nach Taschkent und Almaty stellt sich wiederholt die Frage: "Wo sind wir hier eigentlich?" Selbst die Zugbegleiter wissen es nicht immer zu sagen. In diesem Winkel Mittelasiens sind die Republiken Usbekistan, Tadschikistan, Kirgistan und Kasachstan wie ein Knäuel ineinander verschlungen. Einst verlief durch dieses Gebiet die Große Seidenstraße, die zentrale Route des weitverzweigten Handelsweges zwischen Ostchina und dem Mittelmeer. Viele Spuren der Seidenstraße wurden vom Winde verweht, von Sand zugedeckt. Der Glanz früherer Handels- und Kulturmetropolen verblaßte. Mittelasien glich lange Zeit einem Flickenteppich rückstandiger Khanate und Emirate. Erst die zaristisch-russische Kolonisation stieß sie vom Mittelalter ins 20. Jahrhundert. Dem russischen Zarenreich, das sich große Teile Zentralasiens einverleibte, und auch der aufstrebenden Sowjetmacht war allerdings weniger an der Seidenproduktion als am Anbau von Baumwolle gelegen. Die angehende Supermacht wollte von amerikanischen Importen unabhängig werden. Unter ähnlichen Gesichtspunkten wurde später der Getreideanbau in Kasachstan forciert. Usbekistan ist jetzt der fünftgrößte Baumwollproduzent der Welt, Hauptabnehmer ist der ehemalige Vormund Rußland. Daneben werden Düngemittel, Zement und Textilien hergestellt, Obst und Gemüse kultiviert. Zum Schrittmacher der industriellen Entwicklung wurde Taschkent, die heutige Hauptstadt Usbekistans, ein Ort russischer Prägung. Als im Zweiten Weltkrieg wichtige Industrien aus dem Westen der Sowjetunion nach Taschkent verlagert wurden, nahm die Bevölkerung sprunghaft zu, wuchs der einstige Oasenort zu einem riesigen Komplex der Rüstungs- und Nahrungsmittelindustrie. Schon 1920 war in Taschkent die erste moderne Universität Zentralasiens gegründet worden. Es folgten Fachschulen und Forschungsinstitute, die Filmindustrie und Messeveranstaltungen. Heute dominieren der Maschinenbau, die Chemie- und Elektroindustrie. Im Theater- und Konzertleben nimmt Taschkent den ersten Platz ein. Dem aus dem "goldenen Samarkand" ankommenden Reisenden wird bald bewußt, daß er in Taschkent nicht in eine orientalische Atmosphäre eintauchen wird. An zentraler Stelle steht ein Denkmal, das an das verheerende Erdbeben des Jahres 1966 erinnert. Die Erdstöße hatten von der Altstadt kaum etwas übriggelassen. Das Stadtzentrum wurde in modernem Stil wieder aufgebaut, viele Bewohner zogen in neue Satellitenstädte und die Regierungsbehörden in angeblich erdbebensichere Neubauten aus Glas und Beton. Am Unabhängigkeitsplatz, auf dem früher die größte Leninstatue der Sowjetunion stand, prangt jetzt ein Globus mit einer überdimensionalen Neonkarte Usbekistans. Nahe dem wabenförmigen Riesenbau des Hotels "Usbekistan", inmitten gepflegter Parkanlagen, ist das Karl-Marx-Denkmal einer Reiterstatue des asiatischen Eroberers Timur Lenk alias Tamerlan gewichen. Aus der Kolonialzeit sind nur wenige Gebäude erhalten geblieben, darunter einige Museen, das Opernhaus und die stilvolle Villa des zaristischen Diplomaten Polotsew, heute ein Museum für angewandte Kunst. Übergroß wird vielerorts Usbekistans Staatspräsident Islam Karimow herausgestellt. Der ehemalige KP-Chef der Sowjetrepublik Usbekistan hat die Kommunistische Partei in eine Volksdemokratische Partei transformiert, aber am Personenkult und autokratischen Regierungsstil hat sich seit dem Unabhängigkeitsjahr 1990 nicht viel geändert. Alle oppositionellen Regungen, vor allem das Aufkommen militanter islamistischer Gruppen, wurden rigoros unterdrückt; gleichzeitig verstand sich Karimow als strategischer Partner des Westens im internationalen Antiterrorkampf zu profilieren. Bis zu den blutigen Volksaufständen im Frühjahr 2005 wurde Usbekistan in der Welt vornehmlich als "Perle Mittelasiens" gesehen, dank der Strahlkraft seiner geschichtsträchtigen Prachtstädte Samarkand, Buchara und Chiwa. Höhepunkt der Besichtigung in Taschkent ist ein Besuch im Eisenbahnmuseum. Ältere Orientfahrer erkennen hier Dampflokomotiven aus ihrer Jugendzeit wieder. Einige Loks der vierziger Jahre stammen aus Nordamerika, sie waren der kriegsverbündeten Sowjetunion über Murmansk und Wladiwostok geliefert worden. In der prallen Sonne Taschkents nehmen sich die vorn angebrachten Schneepflüge allerdings surrealistisch aus. Noch ältere Lokveteranen aus Rußland und anderer Herren Länder geben Anlaß, über die Eroberung Mittelasiens nachzusinnen - die Eisenbahn in diesem meerfernen Teil der Welt spielte dabei eine ähnliche Rolle wie bei der amerikanischen Expansion im Wilden Westen. Nordamerika ist zu einem Autoland geworden, dagegen ist in den Ländern der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) die Eisenbahn das wichtigste Transportmittel geblieben. Drei Eisenbahnlinien führen von Moskau nach Taschkent: die Direktlinie über Samara, Orenburg und Aral, die wesentlich längere Verbindung über Nowosibirsk und Almaty sowie die "Seidenstraßen-Route" über Saratow-Urgentsch-Buchara-Samarkand. Schon bald hinter Taschkent wird die Grenze zu Ostkasachstan passiert. Bis Almaty, parallel zu den Bergreihen Kirgistans, sind es noch neunhundert Kilometer durch Steppe und Wüste. Auf der durchgehend elektrifizierten Strecke fahren Sicherheitskräfte mit. In diesem Grenzgebiet wie auch im Ferghana-Tal, dem muslimischen Zentrum Mittelasiens, rumorten schon vor dem Afghanistan-Konflikt islamische Fundamentalisten und kriminelle Banden, wurden Opium und Heroin geschmuggelt, schwelten ethnische Konflikte unter den zentralasiatischen "Brudervölkern". Nach der Unabhängigkeit von Moskau kam es zu Streitigkeiten über Land- und Wasserrechte, über die koloniale Grenzziehung, über ethnische Enklaven und Exklaven - Probleme, die auch den Kaukasus zu einem Pulverfaß werden ließen. In Chu, einem notorischen Tummelplatz kasachischer Drogenhändler, werfen junge Leute kleine Steine an die Zugfenster, um vor allem Reisende der "weichen Klasse" auf "hot stuff", heiße Ware, aufmerksam zu machen. Zugbegleiter und Sicherheitskräfte scheinen wegzusehen, Schlaf nachzuholen - vermutlich stecken alle unter einer Decke. Den Eindruck von Redlichkeit hingegen erwecken Verkäuferinnen, die Zigaretten, Äpfel, Getränke, getrockneten Fisch, Melonen und Weintrauben feilhalten. Erstaunlich, wieviel man für einen Dollar oder einen Euro bekommt. Die Geldströme, die aus den Industrieländern in dieses rohstoffreiche Entwicklungsland fließen, sind in der Provinz offenbar noch nicht angekommen. Die Experimente mit der freien Marktwirtschaft haben in den postsowjetischen Republiken noch ein anderes Problem geschaffen: hohe Jugendarbeitslosigkeit. Überall, besonders rund um die Bahnhöfe, sind Gruppen unbeschäftigter junger Männer zu sehen; sie begrüßen sich mit weitausholendem Handschlag, Freunde auch mit doppeltem Wangenkuß, sie hocken, schwatzen, rauchen miteinander, spucken, spielen Karten, tragen T-Shirts und Jeans. Welche Berufs- und Lebensperspektiven haben diese jungen Menschen? Werden sie sich eines Tages der Drogenmafia oder den Rebellen anschließen? Der wirtschaftliche Aufschwung läßt auf sich warten, die Politiker galten als korrupt, die Ausbildungschancen sind gering. Von demokratischen Verhältnissen sind die fünf mittelasiatischen Staaten einschließlich Turkmenistan noch weit entfernt. Dennoch stellt mancher Orientfahrer fest: Die Menschen hier sehen fröhlicher aus als die Wohlstandsbürger des Westens. Nach den touristischen Glanzpunkten Usbekistans kommen schneebedeckte Berge in Sicht. Im Vordergrund staubdurchwehte Dörfer, Schlammwege, windschiefe Hütten; verwohnte Häuser, Starkstromleitungen. Am Rande der Stadte eine wirre Ansammlung von Industriebetrieben, Abfallhalden, wäscheverhangenen Plattenbauten. Der Zug windet sich in langen Kurven zu einem Hochplateau hinauf, zu Wiesen und Feldern mit malerischen Pappelreihen, durch Schluchten zu Geröll- und Schneewehren, die das doppelte Bahngleis schützen. An einer Bergstation wird der Kirgistan-Express von Moskau nach Bischkek überholt; er hat drei Zeitzonen durchfahren. Augenreiben am nächsten Morgen beim Anblick der Bergkulisse Almatys. Die größte Stadt Kasachstans liegt an den Ausläufern der Tien-Shan-Kette, des Himmelsgebirges, dem natürlichen Grenzwall zwischen China und den mittelasiatischen Ländern. Almaty hieß in der Sowjetära Alma-Ata, "Stadt der Äpfel", ihre Keimzelle war eine russische Festung. Die Terassenanlage begünstigte den Obstanbau. Ein quadratisch angelegtes Garnison- und Beamtenviertel bildet den Kern der Stadt. 1929 wurde sie zur Hauptstadt der Kasachischen Sowjetrepublik; ein Jahr später war der Ausbau der Eisenbahntransversale von Nowosibirsk nach Alma-Ata vollendet. Mehr als zuvor kamen Siedler in dieses leere, abgelegene Land, das flächenmäßig so groß ist wie Westeuropa. Stalin ließ im Zweiten Weltkrieg Hunderttausende Wolgadeutsche nach Kasachstan deportieren. Unter dem Schlagwort "Amerika einholen und überholen" propagierte Chruschtschow den Getreideanbau, die Umwandlung der Halbwüste in eine Kornkammer. Moskau bestimmte Kasachstan überdies zu einem Testgebiet für Nuklearwaffen. Zurück blieben von Chemikalien verseuchte Felder und Wasserläufe, eine von Radioaktivität bedrohte Bevölkerung, ein fortwährender Anstieg der Krebserkrankungen. Der auf kasachischem und usbekischem Territorium liegende Aralsee und seine Zuflüsse wurden für die Bewässerungsprojekte so stark angezapft, daß er zwei Drittel seiner Wassermenge verloren hat und bald ausgetrocknet sein wird. Durch den starken Zuzug aus anderen Teilen der UdSSR war die kasachische Bevölkerung zu einer Minderheit geworden. Ehemalige Kommunisten in der neuen Führungsschicht sind auf die marktwirtschaftliche Linie eingeschwenkt und locken damit westliche Investoren, die von den riesigen Gas- und Erdölvorkommen zu profitieren hoffen. Mit touristischen Sehenswürdigkeiten ist Kasachstan um so weniger gesegnet. Am ehesten könnte das Raumfahrtzentrum Baikonur mit seinem Kosmodrom ein Touristenmagnet sein. Nach der Unabhängigkeit hat aber die Regierung den Weltraumbahnhof bis zum Jahr 2014 an Moskau verpachtet. Rußland zahlt dafür jährlich 115 Millionen Dollar an Kasachstan und sorgt dafür, daß das Pachtgebiet streng abgeschirmt bleibt. In der zaristischen Zeit waren Hausbesitzer in Alma-Ata gehalten, vor ihren Häusern zwei Baumreihen zu pflanzen. Das kommt Almaty heute noch zugute. Straßenstaub und Industriesmog werden durch zahlreiche Grünflachen gemildert, in offenen Kanälen entlang der breitangelegten Straßen fließt Wasser aus den Bergen. Die schattigen Boulevards laden zum Spazierengehen ein. Unter den dünngesäten architektonischen Sehenswürdigkeiten ragt der frisch angestrichene, angeblich ohne Nagel errichtete Holzbau der russisch-orthodoxen Kathedrale hervor. Auf der Suche nach Exotischem werden Besucher aus dem Westen vor allem in den Museen fündig. In den Vitrinen des Museums für nationale Volksmusik sind eigenartige Streich-, Blas- und Schlaginstrumente ausgestellt; ein Knopfdruck bringt sie zum Ertönen. Blickfang im Archäologischen Staatsmuseum ist eine nobel eingerichtete Jurte, das runde, aus faltbarem Holzgestänge und Filz bestehende Wander- und Familienzelt eines nomadischen Stammesfürsten. Wertvollster Schatz ist der "Goldene Mann", die in einem Grab bei Almaty gefundene Statue eines skythischen Kriegers; sie besteht aus viertausend fein herausgearbeiteten Goldteilen, darunter Tiermotiven. In dem von Nomadenvölkern geprägten Land fällt sie vollig aus dem Rahmen. Wenig Orientalisches hat der Basar von Almaty. Erstaunlicher ist das gastronomische Angebot: Restaurants, Kneipen und Cafes mit Namen wie China Town, Osaka, Old England, L'Hermitage, Bosporus, Venezia, Adreatico, Havanna Club, Belgian Pub, Vienna oder gar "Schwäbisches Häuschen". Seit der Gründung im Jahr 1854 wurde Almaty mehrmals von schweren Erdbeben und Überschwemmungen heimgesucht. Aber nicht so sehr die Katastrophengefahr und die Grenzlage, sondern politische Gesichtspunkte haben die Regierung bewogen, nach Astana, ursprünglich Akmolo genannt, umzuziehen. Bereits vorher war aus dem russischen Stadtnamen Alma-Ata wieder das kasachische Almaty geworden. Vorerst wird die Millionenstadt das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum bleiben. Von dem Umzug sind die Angehörigen der ausländischen Botschaften und Kulturinstitute, aber auch viele Politiker wenig begeistert. Durch verrottete, von erschreckenden Umweltschäden gezeichnete Vororte verläßt der Fernzug die Stadt, zunächst in Richtung Sibirien. Zur Rechten erstreckt sich der jadegrüne Kapchagay-See, verlieren sich bis fünftausend Meter hohe Berge im Sonnendunst. Noch einmal erklettert der Zug ein weiteres, von Schluchten durchzogenes Plateau, ein paarmal ziehen Bilder einer heilen Welt vorüber: ein langes, von grüngelbem Schilf gesäumtes Flußtal, eine Ziegenherde auf einem Felsvorsprung über dem Fluß, Schafherden und berittene Hirten, ein Bauer auf einem Esel vor einem Pappelwald. In Aktogai ist die Abzweigung nach China erreicht. An der Dschungarischen Pforte zwischen den Grenzstationen Druschba und Alatao, am Ende der russischen Breitspur, wird morgen ein chinesischer Zug für die Weiterfahrt nach Urumtschi, Turfan, Lanzhou und Xian, dem Ausgangspunkt des chinesischen Teils der Seidenstraße, auf die Orientfahrer warten. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Donnerstag, 17. November 2005, Nr. 268 / Seite R 3
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