Manieren

Zitiert aus Die Welt, Nr. 266, Rubrik: Forum, Freitag, 14. November 2003, S. 8.

"Gutes Benehmen wieder gefragt". So hieß einst Österreichs Klassiker über die feinen Sitten, publiziert vom Tanzschulgründer Willy Elmayer-Vestenbrugg, einem k.u.k. Rittmeister außer Dienst. Der Titel wirkt, auch und gerade in deutschen Landen, aktueller denn je. Man spricht von einschlägiger Konjunktur und Renaissance. Kommentatoren kommentieren das Phänomen. Naturgemäß kommt es dabei zu Fehltritten, vornehmer ausgedrückt: zu Fauxpas. Einer stört mich besonders: Hartnäckig wird ein wunderbares Buch zu den mehr oder minder lehrreichen beziehungsweise leicht lächerlichen Benimm-Brevieren gerechnet, das in dieser Schublade nichts zu suchen hat. Im Grunde müsste allein der Ruf des Herausgebers vor der falschen Zuordnung bewahren. Unvorstellbar, dass Hans Magnus Enzensberger die Anstandsfibeln der unvergessenen Erica von Pappritz, gar einer Gloria von Thurn und Taxis für die Andere Bibliothek entdeckt hätte. Mit Fug und Recht nennt Asfa-Wossen Asserate seinen Band so lakonisch wie möglich: "Manieren". Bereits das gleicht einer eleganten Sachverhaltsdarstellung: Leute haben keine guten oder schlechten Manieren, sie haben Manieren oder keine. Der Autor ist ein Großneffe des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie. Den gefangen genommenen Greis umzubringen, kostete die Revolution geringen Aufwand. Ein Kopfkissen genügte zum Erstickungstod. Asfa-Wossen Asserates Vater hingegen wurde standrechtlich erschossen, seine Mutter und Geschwister verbrachten mehrere Jahre im Kerker. Er selbst, aufgewachsen am Hof von Addis Abeba, studierte damals in England und Deutschland, blieb dort im Exil und wurde Unternehmensberater. Zudem aber ist er ein hochgebildeter Mann mit Witz und Stil, auch in geschriebener Sprache. Seine kulturhistorischen, soziologischen Betrachtungen sind ebenso amüsant wie jene von Nicolaus Sombart, freilich frei von dessen - zugegeben zauberhaftem - Snobismus.

Die Mitteilung "Wachtelbeinchen dürfen abgenagt werden", gehört zu den paar Informationen, die ich hier für überflüssig halte. Schließlich betont Asfa-Wossen Asserate auch nicht, dass Sternkreuzordensdamen lieber auf das Glück unehelicher Kinder verzichten sollten. Selbstverständliches versteht sich von selbst. Doch das Buch zeigt Wichtigeres: wie schmerzlich für unsere Kultur der Verzicht auf Differenziertheit ist. Sang- und klanglos geht ein unermesslicher Reichtum an Tradition verloren, an Farbigkeit und Nuancen. Hinter scheinbar Skurrilem steckt oft tiefer, längst vergessener Sinn. "Jede Abweichung ist per se dümmer als die Regel", behauptete ausgerechnet der gläubige Kommunist Peter Hacks.

Asfa-Wossen Asserates Blick auf die besseren europäischen Verhältnisse ist der des vertrauten Fremden. Einen genaueren gibt es nicht. Mancherlei habe ich gelernt. Zum Beispiel, mit Goethes direkten Worten, künftig nach dem "Scheißhaus" zu fragen, statt verbale Verlegenheitslösungen wie "WC" und "Toilette" zu bemühen. Als Wiener bin ich, kein Wunder, befangen, fast bestochen - finden da doch austriakische Altertümlichkeiten im Gesellschaftsleben, vom Handkuss abwärts, gebührende Würdigung. Außerdem werden als Kapitelmotto einige meiner Lieblingssätze Heimito von Doderers zitiert: "Ich halte jeden Menschen für voll berechtigt, auf die - von den Ingenieursgesichtern und Betriebswissenschaftlern herbeigeführte - derzeitige Beschaffenheit der Welt mit schwerstem Alkoholismus zu reagieren, soweit er sich nur etwas zum Saufen beschaffen kann. Sich und andere auf solche Weise zu zerstören, ist eine begreifliche und durchaus entschuldbare Reaktion. Wer nicht säuft, setzt heutzutage schon eine beachtliche und freiwillige Mehr-Leistung."

Mit britischem Verlaub gesagt, sind Asfa-Wossen Asserates "Manieren" kein "Manual of Manners". Sie erinnern vielmehr an eine Druckschrift von anno 1788: "Über den Umgang mit Menschen". Der Name des Verfassers ist immer noch in aller Munde, kaum jemand hat sein berühmtes Traktat gelesen. Adolph Freiherr von Knigge, geprägt von der Humanitätsphilosophie der Aufklärung, glaubte weniger an geschliffene Formen als an "Herzensbildung". Fur den Journalisten hatte er indes nur Verachtung übrig. Bei diesem - laut Knigge ein "garstiger, schadenfroher Spitzbube" - sei "eine ganz besondre Vorsicht im Umgange nötig".


Ulrich Weinzierl


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