Der Sturz aus dem 17. Stockwerk

Zitiert aus c't 26/2000 Seite 90

Warum so viele Projekte in Terminnot geraten

Alles läuft wie am Schnürchen - so scheint es. Doch kurz vor Torschluss kommt die bittere Wahrheit ans Licht: Das gewichtige Vorhaben der Firma ist 'abgestürzt'.

Sie haben das wichtigste Projekt, auf das die Augen der gesamten Geschäftsleitung gerichtet sind, Ihrem besten Projektleiter übertragen. Selbstverständlich konnten Sie ihn nicht sofort von seinem alten Projekt entlasten, aber Ihr bester Projektleiter kann auch mit zwei Projekten gleichzeitig perfekt umgehen (sonst wäre er ja nicht ihr bester Projektleiter). Gut, das Budget mussten Sie auf Druck der Geschäftsleitung auch etwas reduzieren, aber Ihr bester Projektleiter weiß auch damit umzugehen.

Immer wenn Sie Ihren Projektleiter auf dem Flur sehen, fragen Sie ihn 'So, wie läuft das Projekt? Alles o.k. ?', und selbstverständlich antwortet er Ihnen wie gewohnt' Alles im Griff (sonst wäre er ja nicht Ihr bester Projektleiter). Sie sind wirklich stolz auf ihn und schlafen ruhig, da Sie wissen, dass er jedes Projekt zum Erfolg führen wird, sei es noch so komplex oder die Umstände noch so schwierig.

Das Projekt macht in den kommenden Monaten gute Fortschritte und Ihr Projektleiter bestätigt Ihnen dies auch immer wieder, wenn Sie ihn beim Kaffeeautomaten antreffen. Sie freuen sich, dass sich auch dieses Mal trotz der schwierigen Umstände ein voller Erfolg einzustellen verspricht und sinnen bereits darüber nach, wie Sie den Projektabschluss stolz der Geschäftsleitung präsentieren werden. Bald werden Sie eine weitere Sprosse auf Ihrer Karriereleiter besteigen können.

An einem Freitagnachmittag, Sie sind gerade dabei, Ihre Bleistifte ordentlich auszurichten und sich mental auf das Wochenende vorzubereiten, klopft es an Ihrer Bürotür, und Ihr Projektleiter bittet Sie um fünf Minuten Zeit. 'Ist etwas nicht in Ordnung?' 'Ja, eigentlich ist alles o.k., aber ... wie Sie wissen, in zwei Wochen ... also ... in zwei Wochen müsste die erste Release in Produktion gehen, aber ... also ... wir haben drei Monate Verzögerung.'

'Was, drei Monate Verzögerung? Sie merken erst zwei Wochen vor dem Endtermin, dass Sie drei Monate Rückstand auf den Terminplan haben? Ich habe Sie doch immer wieder gefragt, ob alles o.k. sei, und Sie haben jedes Mal bestätigt, dass Sie alles im Griff haben. Wieso kommen Sie erst jetzt zu mir und informieren mich über diese ungeheuerliche Verzögerung?'

Positiv denken

Wie kann es geschehen, dass ein Vorhaben innerhalb der Spanne eines Tages (gestern auf dem Gang war noch alles in Ordnung) drei Monate Verzögerung erhalten kann?

Einer meiner Lieblingswitze beschreibt die Situation sehr schön und prägnant: Ein Mann fallt aus dem Fenster des 17. Stockwerkes eines Hochhauses. Zuerst erschrickt er sehr und sieht bereits sein Ende kommen. Er beruhigt sich dann aber schnell wieder, indem er auf Höhe jedes Stockwerks denkt 'Bis jetzt ist eigentlich noch alles ganz gut gegangen'.

Genauso kommen mir viele Projektleiter vor. Sie sind bereits aus dem Fenster gefallen und wissen diesim Grunde auch. Um sich und ihre Vorgesetzten aber zu beruhigen, denken sie ständig 'bis jetzt ist eigentlich noch alles gut gegangen' und warten, bis sie an einem Freitagnachmittag kurz vor dem Wochenende am Boden aufschlagen.

Was habe ich daraus gelernt?

- Ich nehme mir für jeden Projektleiter von kritischen Projekten alle zwei Wochen eine Stunde Zeit, um mich über den Stand, die Probleme und die Risiken des Projektes zu informieren.

- Ich frage nicht nur auf dem Flur oder beim Kaffeeautomaten nach dem Stand der Dinge, sondern führe auch regelmäßige Reviews durch, an denen die Projektleiter offen über ihre Projekte und deren Probleme und Risiken berichten.

- Ich reserviere mir als Mitglied des Leitungsteams einer Informatikorganisation mit rund 500 IT - Professionals wie alle anderen Leitungsteammitglieder jede Woche den Dienstagmorgen für Projektreviews.

- Ich gebe den Projektleitern die Möglichkeit, mich frühzeitig über Probleme im Projekt zu informiere, und stelle meine Fragen nicht so, dass die Projektleiter fast keine andere Möglichkeit haben, als zu sagen, dass alles im Lot ist.

- Ich achte darauf, durch Kosten-, Umfang- und Terminbedingungen keine Situationen zu schaffen, welche die Durchführung der Projekte zu einem Risiko werden lassen.

- Ich konzentriere mich darauf, nicht über den Inhalt der Projekte zu diskutieren, sondern über deren Risikomanagement: Welches sind die kritischen Projekte, welche Risiken enthalten sie, wie groß sind die Risiken, was unternehmen wir, um sie zu verringern und zu kontrollieren. Wenn ich die Risiken im Griff habe, habe ich auch die Projekte im Griff.

Leine ziehen

Sie werden sich fragen, was es für Möglichkeiten gibt, sich zu retten, nachdem Sie gemerkt haben, dass Sie aus dem 17. Stockwerk gefallen sind.

Eigentlich keine. Falls Sie beim Projektstart daran gedacht haben, können Sie den Fallschirm, den Sie angezogen haben, nun öffnen. Er hilft Ihnen allerdings auch nicht, sich wieder auf das 17. Stockwerk zu schwingen und wieder zum Fenster hineinzuklettern, aber er dämpft Ihren Aufschlag am Boden doch spürbar ab.

Einen Sturz aus dem 17. Stockwerk übersteht man in der Regel nicht unbeschadet. Ich habe aber schon Projektleiter erlebt, die - kaum sind sie unsanft gelandet - sofort wieder das Treppenhaus hochsteigen, um kurze Zeit darauf aus dem 15. Stockwerk zu fallen. Sie sind der festen Überzeugung, dass sie nur deshalb zum Fenster herausgefallen sind, weil die Probleme im 17. Stockwerk lagen. Nach einigen Versuchen gelangen sie zu der Erkenntnis, dass nicht die oberen Stockwerke die gefährlichen sind, sondern dass die Probleme immer erst auf der Höhe des ersten Stockwerks auftreten. Das nächste Projekt wird deshalb der Bau eines Hauses ohne das erste Stockwerk sein.

Übrigens: In welchem Stockwerk sind Sie gerade angekommen ?


Markus Elsener


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